Selbstmedikation mit Arzneimitteln haben ökonomisch einen hohen Impact: Bei aktuell 1,2 Milliarden Selbstbehandlungen in der EU werden mit Hilfe eigenverantwortlich gekaufter Arzneimittel direkt in den europäischen Gesundheitssystemen 26,3 Milliarden Euro gespart. An weiteren indirekten Ersparnissen kommen 10,4 Milliarden Euro hinzu. Ohne durch Patienten selbst verantwortete Arzneimittelbehandlung würden zusätzliche Arztkonsultationen entstehen, deren Zeitvolumen so groß ist, dass in Europa 120.000 zusätzliche Ärzte benötigt würden. Das sind die zentralen Ergebnisse einer Studie, die der Gesundheitsökonom Professor Uwe May von der Hochschule Fresenius zusammen mit Mitarbeitern des Instituts May und Bauer – Konzepte im Gesundheitswesen für den europäischen Dachverband der Hersteller von Selbstmedikations-Arzneimitteln AESGP erstellt hat.
Die vom Patienten selbst initiierte und verantwortete Behandlung mit Arzneimitteln, die aus eigener Tasche bezahlt werden, hat ökonomisch verschiedene Effekte:
- OTC-Arzneimittel ersetzen zum Teil rezeptpflichtige Arzneimittel, die meistens teurer sind, und entlasten auf diese Weise die Sozialversicherungen;
- Der eigenverantwortliche Kauf von Arzneimitteln erspart Arztkonsultationen und somit Arbeitszeit von Ärzten und deren Praxispersonal;
- Mit dem ersparten Arztbesuch gewinnt auch der Patient Zeit – durch vermiedene Wegezeiten, Warte- und Behandlungszeiten, denn der Gang zur nächstgelegenen Apotheke ist meist kürzer oder der Patient ordert bequem und zeitsparend beim Versandhandel.
Erstmals hat der Gesundheitsökonom Professor Uwe May mit seinem Team für die gesamte Europäische Union ermittelt, wie die ökonomischen Effekte zu quantifizieren sind. In einer Status quo-Analyse errechnete er zunächst, welche Auswirkungen die Selbstmedikation – im Vergleich zu einer Situation bei vollständig fehlender Verfügbarkeit von OTC-Arzneimitteln – hat. In einem zweiten Schritt untersuchte er, welche noch unausgeschöpften Potenziale durch Selbstmedikation hinsichtlich der Marktbreite – gemessen an der Zahl der maximal zur Verfügung stehenden OTC-Präparate und der Intensität der Nutzung im jeweiligen EU-Mitgliedsland verfügbarer Selbstmedikations-Arzneimittel – in Zukunft noch erschlossen werden könnten.
Desweiteren kalkulierte May, welche Kosten pro Fall in den verschiedenen Mitgliedsländern der EU bei der Behandlung geringfügiger Gesundheitsstörungen entstehen. Er verglich dabei
- die Option Behandlung durch den Arzt und die von ihm getätigte Verordnung von OTC-Arzneimitteln und rezeptpflichtigen Arzneimitteln
- mit der Option Selbstmedikation, den Kosten des OTC-Präparats und der Inanspruchnahme einer Beratung durch den Apotheker.
Heterogene Situation
Die Differenzierung nach Ländern und Länder-Clustern ist deshalb von Bedeutung, weil sowohl Arzneimittelpreise, Arzthonorare und Apothekerkosten erheblich variieren und weil auch die zur Verfügung stehenden OTC-Sortimente und deren Nutzung sehr unterschiedlich sind.
Das Ergebnis: Am meisten profitieren diejenigen Länder von der Selbstmedikation, in denen die Arzthonorare hoch sind: das sind Norwegen, die Schweiz und Dänemark – zugleich auch trotz hoher Preise für Rx- und OTC-Arzneimittel – sowie Deutschland und die Niederlande mit eher moderaten Arzneimittelpreisen. In diesen Ländern sind die Fallkosten bei Behandlung durch den Arzt mehr als sechsmal so hoch wie bei der Selbstmedikation, die Ersparnis je Fall liegt zwischen 29,74 und 35,04 Euro.
Ähnlich ist die Relation in Ländern mit generell niedrigem Preisniveau, insbesondere auch für Rx-Arzneimittel, lediglich die absolute Ersparnis fällt mit 13,28 Euro deutlich geringer aus; das sind etwa Länder wie Bulgarien, Kroatien, Estland und Litauen. Selbst in Ländern, in denen Arztkosten niedrig sind, ist die relative Ersparnis immer noch sehr hoch – und die Behandlung beim Arzt mindestens 3,9 mal so teuer wie die Selbstmedikation.
Starke Entlastung der Ärzte
Bei insgesamt 1,2 Milliarden Fällen geringfügiger Gesundheitsstörungen in Europa schlagen vor allem die ersparten Arztkonsultationen ins Gewicht: Dabei handelt es sich um ein Arbeitskontingent von mehr als 221 Millionen Stunden, was die Arbeitskraft von rund 120.000 Ärzten europaweit absorbieren würde. Die Kostenersparnis allein dadurch: 16,6 Milliarden Euro.
Das ist auch versorgungspolitisch äußerst relevant, denn diese freie Kapazität von 120.000 Ärzten ist gar nicht verfügbar. Ohne die Selbstmedikationsoption würden Patienten bei geringfügigen Gesundheitsstörungen nicht versorgt, oder diese Patienten würden Ärzten die Zeit nehmen, sich um Patienten mit schwerwiegenden Krankheiten zu kümmern. Weitere indirekte Ersparnisse mit einem Volumen von 10,4 Milliarden Euro kommen durch vermiedene Krankschreibungen (5,8 Milliarden Euro) und vermiedene Arbeitszeitverluste durch Arztbesuche (4,6 Milliarden Euro) hinzu.
Das Zukunftspotenzial
Wie sieht das zukünftige Potenzial der Selbstmedikation aus? Das hängt einerseits von der Zahl der zur Selbstmedikation zugelassenen Wirkstoffe und zukünftig zu erwartenden Switches ab, andererseits von der Intensität der Nutzung der Selbstmedikation durch die Patienten. Dies stellt sich nach Mays Analyse stellt sich in jedem EU-Land anders dar. Zu den „OTC-reifen“ Ländern (im nordöstlichen Quadranten der Grafik) mit breitem OTC-Angebot und intensiver Nutzung zählen neben dem Spitzenreiter UK auch Deutschland, Polen und Belgien. Als „Entwicklungsländer“ im südwestlichen Quadranten gelten Kroatien und Slowenien, aber auch die Niederlande und Norwegen, deren OTC-Wirkstoff Sortimente ausbaufähig sind. Gemessen am Möglichen, könnten die europäischen Länder durch mehr Selbstmedikation noch weitere rund 17,6 Milliarden Euro mobilisieren. Sie könnten damit vor allem die Kapazität von rund 58.000 Ärzten freisetzen, die in den meist alternden europäischen Gesellschaften sicher nicht arbeitslos würden, sondern ihre Kraft und Fähigkeit auf medizinische Herausforderungen konzentrieren könnten.
Helmut Laschet
PK 5/2021