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  • Kommentare deaktiviert für Naturprodukte – Nicht die Forschung fehlt, sondern ein globaler Standard

Evidenznachweise für Naturprodukte können nur produktspezifisch sein, aber das mangelnde Verständnis für diese Schlüsseltatsache ist nicht nur eine erhebliche Innovationsbremse, sondern verwehrt auch vielen Menschen den Zugang zu wichtigen Behandlungsalternativen, erklärte Nigel A. Pollard, Vorstandsvorsitzender der Natural Health Science Foundation, New York, USA, in einem kürzlich erschienenen Editorial. Er plädiert dafür, die differenzierte Bewertung der Naturprodukte auf neue Füße zu stellen, um ihr enormes therapeutisches Potenzial ausschöpfen zu können.

AIlein 34.408 Pflanzen mit medizinischer Wirkung wurden von den Royal Botanic Gardens in Kew (London, Großbritannien) dokumentiert, wie aus einer jüngsten Veröffentlichung der dort assoziierten Medicinal Plant Names Services (MSN) hervorgeht (Version 17, Dezember 2021). Der hinter dieser hohen Zahl an Medizinalpflanzen – und daraus gewonnener natürlicher Produkte – steckende immense, potenzielle Nutzen für die Gesundheit wird jedoch weithin nicht ausreichend differenziert bewertet und eingesetzt, obwohl weltweit Milliarden Menschen routinemäßig Naturprodukte einnehmen. In einer kürzlich in Kanada durchgeführten Umfrage gaben 85 Prozent der Befragten an, mindestens ein natürliches Gesundheitsprodukt anzuwenden.
Jedoch ist sich ein großer Teil der Menschen nicht über die unterschiedlichen Qualitäten und wechselhaften Wirkungen der Therapeutika im Klaren. Die Entscheidungen der Konsumenten dürften bevorzugt durch Marketinganreize, Verfügbarkeit und Preis beeinflusst werden und vergleichsweise selten auf der Basis faktischer Beweise erfolgen, gibt Pollard zu bedenken. Dies lege wiederum die Vermutung nahe, dass viele Menschen nicht die adäquat verlässliche Therapie erhalten. Zwar mangele es nicht an Forschung, diese werde heute sogar immer weiter ausgebaut, aber die Reproduzierbarkeit der Produkte und die Prüfung ihrer Evidenz für die Praxis müssten dringend noch verbessert werden, um das breite und vielfältige Potenzial der Naturprodukte sinnvoll auszuschöpfen.

 

Die Krux mit der Produktspezifität

In seinem Editorial berichtet Pollard, dass diese Überlegungen bei ihm bereits 1994 angestoßen wurden, als ihm sein Hausarzt gegen eine chronische Sinusitis das Phytopharmakon Sinupret® verschrieb, das er bis dahin nicht kannte. Unter der Behandlung verschwand die Sinusitis innerhalb von einigen Monaten und der Autor war fasziniert von dem Produkt, von seinen Wirkungsmechanismen und vor allem von der Forschung dahinter. Wie er feststellte, befassten sich die damals vorliegenden vielen Studienberichte zu pflanzlichen Arzneimitteln hauptsächlich mit bestimmten Produkten und nicht mit Substanzen. Es dürfte in Anbetracht der komplexen, multiaktiven Inhaltsstoffe, deren variabler Beschaffenheit und der schwierigen Herstellungsprozesse auch nicht überraschen, dass Evidenznachweise für natürliche Arzneimittel allgemein produktspezifisch ausfallen müssen. Bildlich gesprochen erwarte auch niemand, die gleiche Qualität zum gleichen Preis zu bekommen, wenn er einen Grand Cru-Wein oder einen Bund Trauben kauft, so Pollard.

 

Bremsen für die Evidenzforschung

Leider gebe es in den meisten Ländern nur eingeschränkte Möglichkeiten, natürliche Gesundheitsprodukte anhand ihrer spezifischen Evidenz zu unterscheiden. Die auf Patentierung fokussierte Forschung, die das Fundament der Entwicklung und Prüfung synthetischer Pharmaka darstellt, kommt für Naturarzneimittel nur begrenzt zum Tragen. Die Regulierungsbehörden haben Schwierigkeiten, die Berechtigungsanträge und die komplexen Kontrollen, die erforderlich sind, um reproduzierbare Produkte zu gewährleisten, im Auge zu behalten. Auch verlangen nur wenige Länder Transparenz darüber, wie die Produkte hergestellt werden und ob dabei für pflanzliche Arzneimittel sowohl die Good Agricultural and Collection Practices (GACP) als auch die Good Manufacturing Practices (GMP) befolgt werden. Zudem unterliegt die Good Clinical Practice (GCP) für klinische Studien mit pflanzlichen Arzneimitteln weltweit keinen einheitlichen Anforderungen. Und schließlich hielten sich nur wenige klinische Studien, die aktuell veröffentlicht wurden, an die CONSORT-Statements zur Berichterstattung über Studien zu phytopharmakologischen Behandlungen.
Vor diesem Hintergrund bieten sich für die Industrie eher geringe bis gar keine Anreize zu ernsthafter Forschung an Naturprodukten. Erschwerend kommt hinzu, dass die forschenden Pharmaunternehmen praktisch andere Firmen mitfinanzieren, die sich ihrer Innovationen bedienen und sie für eigene Produkte „ausleihen“, wie Pollard es formuliert. Die Möglichkeit, fremde Forschungsergebnisse zu nutzen, lässt es zu, ein Produkt mit vergleichsweise geringem Aufwand herzustellen, wenn auch mit möglicherweise niedrigerer Qualität. Durch niedrigere Preise, Hinzufügen an derer Ingredienzien und geschickte Vermarktung lässt sich so bei Investition in minimierte Forschungsleistungen ein Marktvorteil erreichen.
Allerdings gibt es eine kleine, aber wachsende Gemeinschaft von innovativen Unternehmen, die trotz dieses Risikos Investitionen zur seriösen Erforschung ihrer Produkte tätigen wollen. Allerdings geraten sie allzu leicht in die Gefahr, gegenüber großen Akteuren den Kürzeren zu ziehen. Forschung auf dem Sektor Naturprodukte ist jedoch von großem Nutzen, denn diese Heilmittel erweisen sich als wichtige Alternativen zu anderen Therapieansätzen und stellen für viele Patienten die optimale Lösung dar, betont Pollard.

 

Wettlauf ins Nirgendwo

Angesichts bedenklicher Auswirkungen für die öffentliche Gesundheit aufgrund der Anti-Evidenz-Strömungen auf dem Sektor Naturheilprodukte könnte eine philanthropische, staatliche finanzielle Unterstützung der Weg in die Zukunft sein, schlägt Pollard vor. Allerdings stehen hier Investitionen in die Erforschung isolierter Bestandteile von pflanzlichen Mitteln im Vordergrund, da für diese Forschung Zuschüsse zu erwarten sind. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Heilpflanzen- und Naturstoffforschung (GA) 2019 in Innsbruck, Österreich, entfielen nur drei Prozent der vorgestellten Forschungsergebnisse auf klinische Studien an Fertigprodukten, und zwar auf lediglich 15 von 493 vorgestellten Postern. Die Forschung an isolierten Pflanzensubstanzen führt jedoch fast nie zu Produkten, und wenn, ist ein umfänglicher Entwicklungsprozess – wie bei synthetischen Pharmaka auch – sowie ein Patent erforderlich. Daher befindet sich die Erforschung natürlicher Gesundheitsprodukte gegen die von Monosubstanzen in einem Wettlauf ins Nirgendwo.

 


Konzertierte Lösungswege

  • Die Gesundheitsindustrie für Naturprodukte sollte Kollaborationen intensivieren, um die Basis für Evidenznachweise zu verbessern.
  • Die Regulierungsbehörden, die für Sicherheit und Qualität verantwortlich sind, sollten weitere Wege entwickeln, um die Differenzierung spezifischer Evidenzprodukte zu fördern.
  • Die Verbraucher sollten unterstützt werden, um den Wert und Qualität von Naturprodukten zu erkennen. Auch die Überwachung gesundheitsbezogener Angaben sollte kontinuierlich verbessert werden.
  • Viele „Mainstream“-Angehörige der Gesundheitsberufe sollten verstehen, dass wissenschaftliche Beweise unter Verwendung üblicher Pharmastandards auf natürliche Gesundheitsprodukte nicht immer anwendbar sind.
  • Die Berichterstattung über klinische Studien mit natürlichen Gesundheitsprodukten, sollte den Fokus weiter verstärkt auf spezifisch einsetzbare Produkte – in Abgrenzung zu Einzelsubstanzen – richten.
  • Die wissenschaftliche Gemeinschaft sollte ihre besondere Rolle bei der Festlegung von Standards untermauern und auf der Basis der neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse konstruktiv vorangehen.

 

Natürlich kann und sollte Innovation damit beginnen, den Nachweis für die Reproduzierbarkeit von Produkten zu erbringen, unterstreicht Pollard. Aber die Forschung muss sich nicht unbedingt nur auf randomisierte kontrollierte Studien mit ausgewählten Patientengruppen gründen — die zwar ideal sind, aber hohe Kosten und Risiken mit sich bringen, sondern sie könnte auch eine systematische Sammlung von Evidenzbelegen nach der Marktzulassung eines Produkts umfassen. Die Tatsache, dass die Evidenz, welcher Art auch immer, bei Naturheilmitteln produktspezifisch ist, ist ein Schlüssel für die Zukunft der Gesundheitsindustrie und für eine bessere Akzeptanz und Glaubwürdigkeit des Sektors Naturprodukte innerhalb des „Mainstream”-Gesundheitswesens.
Pollard zieht das Fazit: Es mangelt offensichtlich nicht an Forschung, sondern daran, dass wissenschaftlich erforschte Naturprodukte auf dem Markt schwer zu identifizieren sind. Und warum sollte nicht zur Erleichterung der Auswahl ein globaler Standard für Verbraucher und Angehörige der Gesundheitsberufe eingeführt werden, um den Menschen zu helfen, Naturprodukte mit spezifischer Evidenz auszuwählen?

Dr. Dagmar van Thiel

Quelle: 1. Pollard NA. Research of Natural Health Products is Lacking – Right? Journal of Natural Health Product Research. 2021 Nov 11: 3 (2),1-4.doi.org/10.33211/jnhpr.22

PK 1/2022