„Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben – und damit entsteht eine neue Normalität“, so Bundesgesundheitsminister Jens Spahn am 17. April vor der Bundespressekonferenz. Covid-19 hat in Deutschland – anders als in Italien und Spanien – nicht zur Katastrophe geführt, aber eine neue Realität geschaffen: medizinisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Die Konsequenzen werden und müssen weitreichend sein.
Die Entwicklung der Covid-19-Pandemie in Deutschland – Stand 19. April – gab Grund zum Aufatmen, einerseits. Das exponentielle Wachstum der gemeldeten Infektionen, anfänglich 27 Prozent pro Tag, verlief jetzt inzwischen linear, vielleicht bald degressiv. Die strategisch wichtige Reproduktionszahl war auf 0,7 gesunken. Die Behandlungskapazitäten in Deutschland, insbesondere die Intensiv- und Beatmungskapazitäten, waren bislang stets ausreichend; ab Mitte Mai, so Spahn, sollten deutsche Krankenhäuser wenigstens teilweise wieder in den Normalbetrieb zurückkehren können. Die neue Normalität bedeutete: 25 bis 30 Prozent der auf 40.000 Betten gesteigerten Intensivkapazitäten müssen noch für Covid-19-Patienten reserviert bleiben. Andererseits ist die Pandemie damit keinesfalls bewältigt, sondern bestenfalls eingedämmt, und zwar, um Preis eines gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lockdowns: Abhängig von dessen Dauer schätzen Ökonomen den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf fünf bis 20 Prozent. Ginge es darum, die sozialen und wirtschaftlichen Folgeschäden zu minimieren, müsste die Schockstarre so schnell wie möglich gelöst werden.
Die Corona-Pandemie hat auch Deutschland in eine schwere Krise gestürzt. Eine rasche Lösung der medizinischen und wirtschaftlichen Probleme ist nicht zu erwarten.
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Warten auf einen Impfstoff
Doch das ist nur sehr begrenzt in vorsichtig tastenden Schritten möglich. Die Gründe sind vielfältig: Gegen Covid-19 gibt es keine Impfung. Optimistische Schätzungen gehen davon aus, dass in etwa 14 Monaten, also zur Jahresmitte 2021, einer oder mehrere Impfstoffe zugelassen werden. Die Strategie einer natürlichen Immunisierung der Bevölkerung scheidet wegen ihrer enormen Risiken aus. Eine Herdenimmunität in Deutschland würde erfordern, dass zwei Drittel der Bevölkerung – das wären 54 Millionen Menschen – im Laufe der Zeit infiziert sein müssten. Würde sich dies gleichmäßig auf einen Zwei-Jahres-Zeitraum verteilen, dann hätten wir monatlich 2,3 Millionen Infizierte. Bei der gegenwärtigen Hospitalisierungsrate von 16 Prozent der Infizierten würde dies schätzungsweise bis zu 360.000 Krankenhausbetten erfordern, mehr als zwei Drittel der Gesamt-Bettenkapazität. Die Intensivmedizin und -pflege wäre völlig überfordert. Die Mortalität, die in Deutschland gegenwärtig mit gut drei Prozent im internationalen Vergleich sehr niedrig ist, könnte italienische Ausmaße von 13 Prozent erreichen – und bei 2,3 Millionen Infizierten wären dies monatlich fast 300.000 Co-vid-19-Tote. Das wäre eine humanitäre Katastrophe.
Schneller als Impfstoffe könnten jedoch wirksame Medikamente zugelassen werden, wenn die jetzt angelaufenen klinischen Studien deren spezifische Wirksamkeit bei Covid-19 belegen. Für eine ganze Reihe von Monaten wird dies bedeuten, dass politische Entscheidungen in einem iterativen Prozess zwischen moderaten Lockerungen und wiederholten modifizierten Lockdowns getroffen werden. Eine der wichtigsten Maßgrößen, die dabei nicht überschritten werden dürfen, sind die medizinischen Behandlungskapazitäten, die nicht überfordert werden dürfen. Dabei ist der gegenwärtige Zustand, der den Krankenhäusern elektive Interventionen grundsätzlich untersagt, auf Dauer nicht haltbar. Ebenso wenig vertretbar ist es, dass als Folge von Covid-19 andere wichtige Diagnostik unterbleibt: Akut ist die Zahl der angeforderten Laborparameter in Speziallabors um rund 50 Prozent eingebrochen. Aus Sorge um Infektionsrisiken unterbleiben Arzt- und Krankenhaus-Inanspruchnahme. Damit zeichnet sich ein morbiditätsstau jenseits von Covid-19 ab, der sich auch zu einer zusätzlichen Mortalitätszunahme entwickeln könnte.
Limitationen bei Tests
Ein weiteres Element der Strategie wird die vermehrte und gezieltere Testung sein. Im internationalen Ver-gleich verfügt Deutschland mit rund 700.000 PCR-Tests pro Woche über hohe Laborkapazitäten, die aber nach Auffassung des Robert Koch-Instituts noch gezielter genutzt werden müssen: bei Verdachtsfällen, bei vulnerablen Zielgruppen (Bewohner von Pflege-heimen, Vorerkrankungen) sowie bei medizinischem und pflegerischem Personal.
Ein Problem der gegenwärtig verfügbaren PCR-Tests ist, dass Ergebnisse erst etwa zwei Tage nach Probenentnahme vorliegen. Für manche Konstellationen, etwa Aufnahme in ein Krankenhaus oder Pflegeheim oder auch bei medizinischem Personal, wären dezentral verfügbare Schnelltests nützlich. Mit Hochdruck arbeitet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte an der Zulassung solcher Tests. Eine Limitation bei den Labortests sind Lieferschwierigkeiten der In-vitro-Diagnostika-Industrie, die weltweit Produktionen an Testinstrumenten, Einzelkits, Reagenzien und Verbrauchsmaterial nach Ländern kontingentiert und nicht immer den Bedarf erfüllt. Nach Angaben des Verbandes der Diagnostika-Industrie ist kein einziger Covid-19 PCR-Kit verfügbar, der völlig autonom in Deutschland hergestellt wird.
Fragile Sicherheit
Wie fragil Sicherheit und Versorgung in hochindustrialisierten Ländern wie Deutschland sein kann, zeigte sich in den vergangenen Monaten bei banalen Schutzausrüstungen wie Gesichtsmasken. Krankenhäuser, mehr aber noch die Altenpflegeheime, bettelten sich hilfesuchend durch den leergefegten Weltmarkt. Der Versuch der Bundesregierung, das eigentlich für Militärausrüstung zuständige Bundesamt für Beschaffung mit dem Ankauf von Schutzmasken zu beauftragen, scheiterte kläglich. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind inzwischen 80 Millionen Masken für den medizinischen Bedarf beschafft, wobei auf die Einkaufserfahrung internationaler Unternehmen im Asiengeschäft zurückgegriffen wurde. Um die Unabhängigkeit Deutschlands zu sichern, wurden an 50 deutsche Unternehmen Aufträge zur Maskenproduktion vergeben – die Lieferung wird aber erst für August erwartet. Die Versorgung breiter Teile der Bevölkerung wäre aber eine der Voraussetzungen für eine weitergehende Aufhebung der Lock-down-Maßnahmen. Der Bedarf liegt im Milliarden-Bereich.
Daseinsvorsorge neu überdenken
Die Konsequenzen aus der Covid-19-Pandemie werden vielfältig und tiefgreifend sein, politisch, wirtschaftlich und sozial:
Der Staat wird seine Verpflichtung zur Daseinsvorsorge sehr viel ernsthafter prüfen müssen. Der Zustand des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, in dem in den letzten 20 Jahren 30 Prozent der Arztstellen weggeschmolzen sind, ist besorgniserregend. Die Fähigkeit des ÖGD, Infektionsketten zu detektieren, muss wieder hergestellt werden. Katastrophenpläne in Papierform nutzen wenig, wenn sie in der Realität an fehlender Lagerhaltung und Logistik scheitern.
Die Globalisierung der Wirtschaft ist mit einer gefährlichen Monopolisierung und Oligipolisierung einhergegangen. Die andauernden Lieferengpässe bei Arzneimitteln waren eine Warnung – sie wurde nicht ernst genommen. Eine nachhaltige Strategie erfordert keine atavistische Autarkiepolitik, sondern eine permanente Analyse des Angebots und der Produktionskapazitäten für versorgungskritische Güter: Sicherung der Vielfalt und Flexibilität der Angebotskapazitäten und der Lieferketten durch internationale Kooperation.
Auch die Digitalisierung mag am Ende ein positiver Effekt sein. Wo immer möglich, hat die digitale Kommunikation einen neuen Stellenwert gefunden, auch in der Medizin, wie beispielsweise durch die Videosprechstunde. Die jetzt in der Not gemachten Erfahrungen könnten dazu beitragen, die Rückständigkeit Deutschlands im medizinischen Bereich schnell aufzuholen.
Helmut Laschet
PK 3/2020