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In der Antike galt die persönliche Erfahrung als Königsweg ärztlicher Kunst. Erst der Schotte George Fordyce hat sich im 18. Jahrhundert für eine Prüfung therapeutischer Maßnahmen eingesetzt. Sechzig Jahre später wurden die ersten vergleichenden Studien eingeführt. Heute stützt sich die evidenzbasierte Medizin auf den Nachweis der Wirksamkeit. Die Forderung nach klinischer Evidenz für die Anwendung von Phytopharmaka, Homöopathika und anderen Naturheilmitteln ist eines der primären Anliegen, für das sich das KFN seit Anbeginn seines Bestehens engagiert. Diese Thematik soll deshalb an dieser Stelle ausführlich dargestellt werden.

 

Pionier der evidenzbasierten Medizin (EbM) war der Kanadier David Sackett, der die Methode zunächst in den angelsächsischen Ländern einführte.1967gründete er das erste Institut für klinische Epidemiologie an der McMaster Universität in Kanada und später das Oxford Centre for Evidence-based Medicine in Großbritannien. Einen weiteren Meilenstein in der Entwicklung der evidenzbasierten Medizin setzte der britische Epidemiologe Archibald Cochrane 1972 mit seinem Buch „Effectiveness and Efficiency: Random Reflections on Health Services“, das zu einer weiteren Akzeptanz klinischer Epidemiologie und kontrollierter Studien führte. Heute umfasst die Cochrane Collaboration ein weltweites Netzwerk von fast 80000 Wissenschaftlern, Ärzten sowie Angehörigen anderer Gesundheitsberufe. Die Bezeichnung „Evidenz“ ist die Übertragung des englischen Begriffs „evidence = Nachweis, Beleg“. Dessen Aussage stimmt jedoch nicht mit der deutschen Bedeutung von „evident“ im Sinne von „offensichtlich“ überein. Die EbM bezieht sich jedoch auf die Informationen aus wissenschaftlichen Studien und systematisch zusammengetragenen klinischen Daten, die einen Sachverhalt entweder erhärten oder widerlegen. Im Jahre 2000 wurde der Begriff „evidenzbasierte Leitlinien“ auch in das deutsche Sozialgesetzbuch eingeführt.

 

Trügerische Erfahrung

Die evidenzbasierte Medizin stellt heute die Basis diagnostischer und therapeutischer Entscheidungen dar. Durch die breite wissenschaftliche Basis sollen Trugschlüsse und Denkfehler möglichst ausgeschaltet werden. Erfahrung allein ist in der Tat ein problematischer Ratgeber, denn unser Gehirn ist anfällig für so genannte kognitive Verzerrungen, mit denen wir selektiv jene Informationen aufnehmen, die unsere Erwartungen bestätigen. Psychologen bezeichnen Menschen deshalb als „kognitive Geizkragen“. Mit wissenschaftlichen Nachweisen will evidenzbasierte Medizin ein Bollwerk gegen solche systematischen Denkfehler errichten.

 

Stufenweise Empfehlung

Für therapeutische Fragestellungen haben sich in der evidenzbasierten Medizin systematische Übersichten, so genannte Reviews, etabliert. Die für EbM geforderte externe Evidenz wird nach Validitätskriterien hierarchisch geordnet und orientiert sich daran, ob durch das Studiendesign systematische Fehler vermieden werden.

Die Empfehlung für eine Therapie richtet sich in erster Linie nach den unterschiedlichen Evidenzklassen von Ia bis IV:

  • Klasse Ia: Evidenz durch Meta-Analysen von mehreren randomisierten, kontrollierten Studien
  • Klasse Ib: Evidenz aufgrund von mindestens einer randomisierten, kontrollierten Studie
  • Klasse IIa: Evidenz aufgrund von mindestens einer gut angelegten, jedoch nicht randomisierten und kontrollierten Studie
  • Klasse IIb: Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, nicht randomisierten und nicht kontrollierten klinischen Studie, z.B. Kohortenstudie.
  • Klasse III: Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht-experimenteller deskriptiver Studien wie etwa Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fall-Kontroll-Studien.
  • Klasse IV: Evidenz aufgrund von Berichten der Experten-Ausschüsse oder Expertenmeinungen.

Als beste „Evidenz“ gelten statistische Daten, die Expertenmeinung steht in der EbM am unteren Ende der Bewertungsskala. Randomisierte, kontrollierte klinische Studien und besonders systematische Übersichten dieser Studien informieren mit höherer Wahrscheinlichkeit korrekter als Einzelfallbetrachtungen und lassen falsche Schlussfolgerungen weniger wahrscheinlich sein, so dass sie als „Goldstandard“ für die Beantwortung der Frage dienen, ob Therapiemaßnahmen mehr nützen als schaden oder umgekehrt. Auf der Basis der Evidenzklassen werden Empfehlungen für die Behandlung gegeben, unterteilt nach:

  • Grad A: „Soll“-Empfehlung: zumindest eine randomisierte kontrollierte Studie von insgesamt guter Qualität und Konsistenz, die sich direkt auf die jeweilige Empfehlung bezieht und nicht extrapoliert wurde (Evidenzebenen Ia und Ib).
  • Grad B: „Sollte“-Empfehlung: Gut durchgeführte klinische Studien, aber keine randomisierten klinischen Studien, mit direktem Bezug zur Empfehlung (Evidenzebenen II oder III) oder Extrapolation von Evidenzebene I, falls der Bezug zur spezifischen Fragestellung fehlt.
  • Grad C: „Kann“-Empfehlung: Berichte von Expertenkreisen oder Expertenmeinung und/oder klinische Erfahrung anerkannter Autoritäten (Evidenzkategorie IV) oder Extrapolation von Evidenzebene IIa, IIb oder III; diese Einstufung zeigt an, dass direkt anwendbare klinische Studien von guter Qualität nicht vorhanden oder nicht verfügbar waren.
  • Good Clinical Practice: Wenn für eine Behandlungsmethode keine experimentellen wissenschaftlichen Studien existieren, diese nicht möglich sind, das Behandlungsverfahren aber dennoch allgemein üblich ist und innerhalb der Konsensusgruppe eine Übereinkunft über das Verfahren erzielt werden konnte, so erhält diese Methode die Empfehlungsstärke „Good Clinical Practice (GCP)“.

 

Leitlinien als Richtschnur

Auf evidenzbasierter Medizin beruht auch die Entwicklung von Leitlinien für Diagnostik und Therapie, die seit 1995 durch die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordiniert wird. Leitlinien beinhalten systematisch entwickelte Empfehlungen und Aussagen, die den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbilden. Ihr Ziel ist es, die Entscheidungsfindung von Ärzten sowie anderen Gesundheitsberufen und auch von den Patienten selbst zu unterstützen. Leitlinien bilden die entscheidenden Scharniere zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und klinischer Praxis. Je nach Qualität des Entwicklungsprozesses werden sie mit S1 bis S3 bezeichnet. Wirklich evidenzbasiert sind nur S3-Leitlinien mit vollständigem Literaturverzeichnis, Berücksichtigung zusammengefasster Literatur und einer Einordnung der Empfehlungsstärke und Bewertung der Ergebnisrelevanz. Daneben existieren noch Nationale Versorgungsleitlinien zu Diabetes mellitus, Hypertonie oder Demenz, einem Projekt der Bundesärztekammer (BÄK), der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) sowie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).

 

Evidenzbasierte Medizin

Unter evidenzbasierter Medizin im engeren Sinne versteht man eine Vorgehensweise, Patienten auf der Basis der besten zur Verfügung stehenden Daten zu versorgen. Diese Technik umfasst die systematische Suche nach der relevanten Evidenz in der medizinischen Literatur für ein konkretes klinisches Problem, die kritische Beurteilung der Aussagekraft der Evidenz nach klinisch epidemiologischen Gesichtspunkten sowie die Anwendung auf den konkreten Patienten mit Hilfe der klinischen Erfahrung und der Vorstellungen der Patienten. EbM stützt sich somit auf drei Säulen

  • den aktuellen Stand der klinischen Forschung (externe Evidenz)
  • die individuelle klinische Erfahrung (interne Evidenz)
  • die Werte und Wünsche des Patienten

 

Klinische Evidenz plus Erfahrung

Evidenzbasierte Medizin stützt diagnostische und therapeutische Entscheidungen auf mathematisch-naturwissenschaftliche Methoden und will sie damit vor Außenseitermeinungen, Selbstüberschätzung und autoritärem Handeln schützen. Kritisiert wird mitunter, evidenzbasierte Medizin gehe zu schematisch vor. Diese Kritik greift zu kurz, denn damit würde sie auf die externe Evidenz beschränkt. Doch gerade in der letzten Zeit rücken die individuelle klinische Erfahrung des Arztes sowie die Sicht des Patienten zunehmend in den Vordergrund. Klinische Studien beziehen sich auf Patientengruppen, die Kunst des Arztes liegt darin, zu überprüfen, ob dieses Wissen auf den individuellen Patienten übertragbar ist.

 

Hannelore Gießen

PK 1/2020